Whittier – Stadt unter einem Dach


Die meisten Menschen haben schon einmal einen Städtetrip unternommen – man besucht eine bislang unbekannte Stadt, bestaunt die Sehenswürdigkeiten und lässt sich vom Rhythmus der Stadt treiben. Dabei verschlägt es einen in der Regel in die Metropolen und Kunstzentren der Welt, Kleinstädte dürften eher selten zu den Destinationen zählen. Doch die kleine Stadt Whittier in Alaska wäre vielleicht doch einen Besuch wert. Denn dort leben nahezu alle der 220 Einwohner unter einem Dach. Was es mit der bemerkenswerten Stadt Whittier auf sich hat, erfahrt Ihr hier.

Whittiers Beginn als Militäranlage

Die Geschichte von Whittier begann während des Zweiten Weltkriegs, als die US Army dort einen Militärstützpunkt errichteten. Nahe dem Whittier-Gletscher – benannt nach dem US-amerikanischen Dichter John Greenleaf Whittier – befand sich eine Bucht nordöstlich der Kenai-Halbinsel. Die geschützte Lage bot ideale Bedingungen für einen Militärhafen samt Bahnstation, die 1943 durch die Alaska-Railroad ans Eisenbahnnetz angebunden werden konnte und den Namen Whittier erhielt.

Durch die verbesserte Erreichbarkeit konnte der Stützpunkt wachsen, denn er sollte zu Zeiten des Kalten Krieges die Versorgung ins Landesinnere sicherstellen. Mit dem Wachstum stellte sich die Frage nach der Unterbringung der Soldaten, der Verwaltung und des Service-Personal sowie von deren Familien. Zunächst schaffte das Buckner Building Abhilfe, das Stadt unter einem Dach genannt wurde, da es zahlreiche Schlafquartiere, ein Mannschaftsheim, ein Kino, eine Bowlingbahn und ein kleines Gefängnis beherbergte.

Whittier
Buckner Building, Quelle: Wikipedia/Gabor Eszes

Vier Jahre später kam das 14-stöckige Hodge Building hinzu, in dem in über 150 Zimmern auch die Menschen Platz finden konnten, die diesen Ort versorgten. Um Schönheit ging es dabei freilich nicht – vor allem praktisch sollte es sein, um möglichst viele Familien unterbringen zu können. Da somit auch Kinder zu den Bewohnern zählten, wurde in einem Nebengebäude sogar eine Schule eingerichtet und durch einen Tunnel mit dem Hodge Building verbunden. Angesichts der strengen Winter in Alaska war das für die Kinder sicher eine enorme Erleichterung.

Das große Beben

Die eindrucksvolle aber dennoch karge Landschaft sowie die eingeschränkten Freizeit- und Erholungsmöglichkeiten waren für die Einwohner Whittiers sicher kein Picknick. Doch es sollte noch schlimmer kommen. Am 28. März 1964 traf das schwerste Beben der US-Geschichte Alaska und löste mehrere Tsunamis aus, die die umliegenden Küstenstädte trafen – darunter auch Whittier. Die gesamte Hafenregion wurde verwüstet und Eisenbahn sowie ein Tanklager stark in Mitleidenschaft gezogen. Zehn Millionen Dollar betrug der entstandene Schaden – ein hoher Betrag, wenn man die Größe Whittiers bedenkt.

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Whittier in ziviler Obhut

Noch bis 1960 wurde der Hafen aktiv vom Militär genutzt und 1966 an die unabhängige Behörde General Services Administration übergeben. Mit dem Ende der Zeit als Stützpunkt zogen die Soldaten ab und überließen Whittier sich selbst. Das Buckner Building, die eigentliche Stadt unter einem Dach, wurde dabei verlassen, da es für die verbleibenden Zivilisten viel zu groß war.

Somit verblieb lediglich das Hodge Building, das 1966 vom Bundesstaat Alaska übernommen worden war. Sieben Jahre später wurde es zum Apartmenthaus umgebaut und zu Ehren des seit 1972 spurlos verschwundenen Kongressabgeordneten Nick Begich in Begich Towers umbenannt. Doch neben den Apartments wurde auch die gesamte Infrastruktur der Stadt dort untergebracht. So befinden sich in dem Gebäude seither die Verwaltung samt Bürgermeister, eine Polizeistation, ein Krankenhaus, eine Kirche, eine Bank, ein Waschsalon, ein Wertstoffhof, diverse Einkaufsmöglichkeiten, die Post und sogar ein Bed & Breakfast mit acht Suiten. Auch Freizeitmöglichkeiten wie Schwimmbad und Fitnessräume offeriert der Gebäudekomplex seinen Bewohnern.

Da Begich Towers neben dem kleinen zweistöckigen privaten Wohnhaus das einzige Gebäude ist, finden somit fast alle der 220 Einwohner der Stadt (Stand 2010) dort ein Zuhause, sodass inzwischen ganz Whittier mit Stolz den Beinamen Stadt unter einem Dach trägt.

Whittier
Begich Towers, Quelle: Wikipedia/Jessica Spengler

Wie lebt es sich in Whittier?

Doch wie lebt es sich, einkaserniert in einem riesigen Wohnblock? Manche Menschen verlassen das Gebäude tatsächlich über Monate hinweg nicht, da es schlicht alles bietet, was man täglich braucht. Der Supermarkt im Erdgeschoss wartet mit genug Vielfalt von frischem Obst und Gemüse über Dosensuppen bis hin zu einem Videoverleih auf. Wer also keinen allzu großen Drang nach Frischluft und Sonnenschein verspürt, der kommt hier prächtig aus.

Natürlich haben sich die Besonderheiten der Stadt inzwischen herumgesprochen. Deshalb verirren sich hin und wieder Touristen in das ungewöhnliche Städtchen – und das obwohl der einzige Zugang zu Whittier neben Hafen und Eisenbahn aus einem einspurigen, zweieinhalb Kilometer langen Tunnel besteht. Doch die Unannehmlichkeiten ist es wert, denn die einmalig gelegene Stadt ist ein hervorragender Ausgangspunkt für Touren über die beeindruckenden Gletscher oder zur Erkundung der faszinierenden Tierwelt Alaskas.

Trist wirkt der Ort – abgesehen von der malerischen Landschaft – aber dennoch. So abgeschieden vom Rest der Welt, ohne bedeutende Entwicklungen oder die Perspektive auf Veränderung lässt das Leben dort von außen recht klaustrophobisch aussehen. Andererseits muss man auch die Vorzüge bedenken. Die kurzen Wege zur Arbeit und zur Erledigung des Alltags bieten viel Zeit für ein ruhiges, entspanntes Leben abseits der Hektik einer Großstadt inmitten eines grandiosen Panoramas.


Habt Ihr schon einmal von Whittier gehört oder wart Ihr vielleicht sogar schon einmal dort? Könntet Ihr Euch ein Leben in dieser ungewöhnlichen Stadt vorstellen? Teilt uns Eure Gedanken mit und lasst uns diskutieren. Wir freuen uns auf Euren Input.

René

Mich faszinieren besonders politische sowie wirtschaftliche Zusammenhänge in der Welt. Dazu recherchiere ich gern selbst und werde euch die Früchte meiner Arbeit regelmäßig präsentieren. Außerdem liebe ich Filme, sodass ihr euch auch auf das ein oder andere Review freuen dürft.

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