Dass sich Neandertaler und Homo sapiens vor etwa 35.000 Jahren nicht nur duldeten, sondern auch liebten, wissen Anthropologen schon länger. Neue Untersuchungen zeigen nun, dass die DNS des vermeintlich archaischen Urmenschen in unserem Erbgut auch Schwachstellen aufweist. Wer etwa von Nikotin abhängig ist, trägt oft einen bestimmten Abschnitt der Erbanlage der Homininen mit sich herum.
Folgenreicher Steinzeit-Sex mit dem Neandertaler
Vielleicht interessiert Dich auch das hier: Die Steinwährung der Insel Yap – Wer braucht schon Papiergeld?
Bisher waren die Forscher davon ausgegangen, dass uns Erbinformationen der Neandertaler vor allem resistent machen gegen Kälte und graue, kurze Tage. Denn genau das war es, was Homo sapiens in Europa vorgefunden hat, als er mit seinesgleichen von Afrika aus immer weiter gen Norden marschierte. Vor 70.000 bis 60.000 Jahren erreichte er gemäß der Out-of-Africa-Theorie die Levante, vor 40.000 Jahren dürften unsere Vorfahren Mitteleuropa erreicht haben. Der Neandertaler – in gewisser Weise ja auch unser Urahn – war schon längst da. Er war der Out-of-Africa-Theorie zufolge in einer früheren Auswanderungswelle vom Schwarzen Kontinent in unsere Breiten übergesiedelt, wo er wahrscheinlich vor 125.000 Jahren angekommen war.
Im Vergleich zu Afrika war es hier kalt und dunkel. Die Neandertaler mussten sich also anpassen, um zu überleben, es gab genetische Mutationen. Und als es schließlich zum Steinzeit-Sex zwischen Neandertaler und Homo sapiens kam, was wohl gar nicht so selten war, gaben die Neandertaler diese Erbinformationen an unsere Vorfahren weiter. Das war praktisch, denn damit konnten sich auch unsere Ahnen viel besser auf die neuen Umwelteinflüsse einstellen. Die Resistenz gegen Kälte und Krankheiten verbesserte sich schlagartig.
Die schlechten Nachrichten
Wie jede Medaille hat auch diese eine Kehrseite, wie sich jetzt herausgestellt hat. Die Heizung, die Elektrizität, die Schulmedizin und weitere Errungenschaften sorgen dafür, dass wir nicht frieren oder krank werden. Wir brauchen Neandertaler-DNS also nicht mehr. Die schlechte Nachricht: Wir tragen sie trotzdem in uns – bis zu vier Prozent unserer Erbinformationen stammen vom Neandertaler. Die noch schlechtere Nachricht: Sie beeinflusse „klinisch relevante Merkmale des modernen Menschen“ auch negativ, wie neulich im amerikanischen Wissenschaftsmagazin Science zu lesen war. Und die schlechteste Nachricht: Es gibt kein Mittel, das dagegen ankommt.
Vielleicht interessiert Dich auch das hier:Klimawandel – So haben sich Temperatur, Meeresspiegel und Eismassen entwickelt[/pullquote]
So sollen die Untersuchungen ergeben haben, dass eine bestimmte Sequenz der Neandertaler-Erbanlage heute dazu führt, dass Menschen, die diesen DNS-Abschnitt aufweisen, ein erhöhtes Risiko zur Nikotinsucht aufweisen. Viel Rauch um nichts aus dem Neandertal? Leider nein, wie die in Science zitierten Wissenschaftler der Vanderbilt University in Nashville sagen. Zwar ist demnach nicht klar, warum gewisse DNS-Abfolgen uns zum Glimmstängel greifen lassen oder nicht. Dafür haben die Forscher herausgefunden, dass nicht nur Rauchen eine unschöne Folge von Neandertaler-Erbgut ist. Auch die Neigung zu Depressionen nimmt offenbar zu, wenn bestimmte Erbgutvarianten heute bei uns auftreten.
Damals gut, heute schädlich
Richtig Pech hat, wer nicht nur die Paff-DNS in sich trägt, sondern auch eine Neandertalersche Sequenz, die Blut schnell gerinnen lässt. Früher war das nützlich, weil Wunden so schneller verschlossen wurden und keine Keime in den Blutkreislauf gelangten. Heute hat sich auch dieser Vorteil in einen Nachteil verkehrt. Denn die Gefahr, eine Embolie, einen Insult oder, als Frau, Komplikationen in der Schwangerschaft zu erleiden, ist dadurch deutlich gestiegen.
Die Antwort auf das Warum ist dabei ziemlich offensichtlich. Die Evolution hat zig Jahrtausende benötigt, um bestimmte Ausprägungen wie die Blutgerinnung so an den Menschen anzupassen, dass dieser überlebensfähiger wurde. Wir haben es dagegen in nur wenigen Jahrzehnten geschafft, Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu einem zivilisatorischen Problem werden zu lassen. Das kann die Evolution nicht im Handumdrehen wegwischen. Im Falle der Nikotinsucht und der Anfälligkeit für Depressionen hingegen haben die Wissenschaftler noch keine endgültige Lösung parat.
Das Erbgut sagt dem Hirn, was es zu tun hat
Klar ist nur, dass die Komplexität unseres Gehirns enorm ist. So groß, dass schon winzige Änderungen der Informationen im Erbgut genügen, um sich im Hirn negativ bemerkbar zu machen. So jedenfalls formuliert es Vanderbilt-Studentin Corinne Simonti, auch eine der Verfasserinnen des Science-Artikels. Warum aber ausgerechnet Depressionen und die Sucht nach Nikotin die negativen Konsequenzen sind, ist noch nicht ergründet. Immerhin stellen wir uns den Neandertaler weder trübsinnig sinnierend unter einem Baum noch kettenrauchend nach dem Verzehr eines halben Mammuts vor – mal flapsig ausgedrückt.
Tony Capra, ebenfalls am Text in Science maßgeblich beteilig und PhD an der Vanderbilt, hatte es so formuliert: „Unsere Haupterkenntnis ist, dass die Neandertaler-DNA klinisch relevante Merkmale des modernen Menschen beeinflusst.“ Betroffen seien oft nicht nur unser Hirn, sondern auch Nerven, Haut und das komplette Immunsystem. Ein Irrtum erscheint bei 28.000 Studienteilnehmern europäischer Abstammung ausgeschlossen. Die späte Rache der Neandertaler am Homo sapiens, der seinem Cousin evolutionsbiologisch ansonsten wohl überlegen war und ihn darum einfach verdrängt hat.
Das denkt ihr darüber – was mag der Grund sein, dass einige Sequenzen des Erbguts des Neandertalers Menschen zu Kettenrauchern machen? Oder warum einige von uns zu Depressionen neigen? Und: wird die Wissenschaft die Antworten darauf finden? Diskutiert und kommentiert diesen Text, wenn ihr wollt – nur noch ein bisschen nach unten scrollen genügt.
Quelle Titelbild: Photodune