Rund 7,3 Milliarden Menschen leben momentan auf unserer großen blauen Kugel – und es werden ständig mehr. Im Jahr 2050 könnten es bereits 9,7 Milliarden und weitere 50 Jahre später sogar unglaubliche 13 Milliarden Menschen sein. Die Ernährung dieser enormen Menge dürfte ein Herkulesaufgabe für uns werden und innovative Konzepte sind gefragt. Ein Lösungsansatz stellt das Vertical Farming dar: Gewächshäuser im Wolkenkratzer-Format. Was sich dahinter verbirgt und inwieweit es im Stande ist, dem Welthungerproblem zu begegnen, erklären wir im Folgenden Artikel.
Anbaufläche wird knapp
[dropcap style=“square“]D[/dropcap]as Problem, dem wir uns in einigen Jahren gegenüber sehen werden, ist die ständig wachsende Weltbevölkerung. Aktuell werden nach Angaben der Vereinten Nationen etwa 80 Prozent der nutzbaren Anbauflächen tatsächlich für die Landwirtschaft genutzt. Weitere 15 Prozent wurden durch schlechte Verwaltung unbrauchbar gemacht, sodass ohnehin nicht mehr viel Fläche zur Verfügung steht. Doch würden wir die aktuellen Anbautechniken unverändert weiter gebrauchen, dann müsste bis zum Jahr 2050 eine Fläche in der Größe Kanadas zusätzlich bestellt werden.
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Dabei blieb allerdings unberücksichtigt, dass sich die Ernährungsgewohnheiten der Menschen mit steigendem Wohlstand verändern. Besonders der wachsende Fleischkonsum in China wird zum Problem. Weitere aufstrebende Volkswirtschaften wie die sogenannten Next-11-Staaten könnten eine ähnliche Entwicklung zeigen. Betrachtet man dazu die in der folgenden Tabelle gelisteten Einwohnerzahlen der fünf größten betroffenen Länder, wird schnell klar, dass Kreativität gefragt ist, um die vielen hungrigen Mäuler auch in Zukunft ausreichend stopfen zu können.
Vertical Farming ist keine neue Idee
Wind der über ein Gerstenfeld weht, Sonnenstrahlen, die die Pracht goldgelb erstrahlen lassen – vielleicht wird das in vielen Jahren nur noch eine trübe Erinnerung der älteren Generation sein. Denn der Mensch braucht eine Alternative zur herkömmlichen Landschaft, wenn die obigen Prognosen einigermaßen zutreffen. Findet sich die Lösung des Welthungerproblems vielleicht in einem Wolkenkratzer? Die Idee, dem Problem knapp werdender Böden beizukommen, indem einfach viele Böden übereinander gestapelt werden, ist so simpel, dass sie nicht neu sein kann – und das ist sie auch nicht. Geprägt wurde der Begriff ursprünglich von Gilbert Ellis Bailey, jedoch in einem vollkommen anderen Zusammenhang. Er beschäftigte sich damals mit der Aufnahme von Nährstoffen durch die Pflanze.
Turmgewächshaus mit vielen Vorteilen
Die erste echte vertikale Farm stammt von Diplom-Ingenieur Othmar Ruthner. Im Jahr 1965 wurde sie in Leverkusen in Betrieb genommen. Das 20 Meter hohe Gebäude hatte einen Durchmesser von vier Metern, war rund und komplett verglast. Das im inneren herrschende Kunstklima sollte Rekordernten sicherstellen. Über ein Seilzugsystem sollten Mini-Beete durch das Gebäude gefahren und an einer zentralen Station mit Wasser und einem Nährstoffnebel versorgt werden. Doch die Ergebnisse konnten anscheinend nicht überzeugen. Das Turmgewächshaus wurde nicht weiter betrieben, selbst Aufzeichnungen gibt es kaum mehr darüber.
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Doch die Vorteile des Projektes lagen auf der Hand. Eine einzige Person sollte nach Meinung des Österreichers für die Steuerung der komplexen Anlage genügen. Ein stabiler Ertrag schien mit der Technik garantiert, denn durch das künstliche Klima sowie der entsprechenden Beleuchtung bliebe man von Petrus‘ Launen unberührt. Das macht es auch für sonst nicht zum Anbau geeignete Regionen praktikabel. Sogar die NASA meldete Interesse an der Idee an, um Gemüse auf dem Mond anzubauen. Zudem sollte das Projekt Transportwege erheblich verkürzen, da die Gebäude dort stehen würden, wo sie gebraucht werden: in Ballungszentren. Doch Ruthner war seiner Zeit wohl weit voraus. Die damalige Lage Zwang die Menschheit noch nicht zum Umdenken.
Hochstapelei in der Tierzucht
Auch im Bereich der Tierhaltung wurde gab es Bestrebungen, in die Höhe zu bauen, um wertvollen Platz zu sparen. In Maasdorf in Sachsen-Anhalt wurde 1970 ein sechsstöckiges Gebäude zur Schweinezucht errichtet – das einzige seiner Art in ganz Europa. In der DDR war der Bau ein Prestigeprojekt, weil diese Form der Tierzucht durch die Automatisierung zahlreicher Arbeitsschritte und den Tiertransport mittels Fahrstuhl als äußerst fortschrittlich galt. Heute prangern Tierschützer die Bedingungen im noch immer in Betrieb befindlichen Schweinehochhaus an.
Ein ähnliches Projekt ging 1967 in Berlin an den Start. Im Ortsteil Neukölln wurden auf zehn Etagen rund 150.000 Legehennen untergebracht. Damit war das Hühnerhochhaus die größte Legebatterie Europas. Auch dieses Projekt der urbanen Landwirtschaft zog schnell die Wut der Tierschützer auf sich. Doch nicht deshalb, sondern wegen mangelnder Rentabilität wurde der Hühnerknast bereits fünf Jahre nach Eröffnung wieder geschlossen.
Vertical Farming erlebt eine Renaissance
Nachdem das Turmgewächshaus von Othmar Ruthner mitsamt den Plänen irgendwann in der Versenkung verschwand, wurde die Idee 1999 in New York neu erfunden. Professor Dickson Despommier wollte mit seinen Studenten prüfen, ob Reisanbau auf den Dächern der Stadt die New Yorker Bevölkerung ernähren könne. Dem war nicht so. Gerade einmal zwei Prozent der Menschen wären auf diese Weise satt geworden. Also erarbeiteten sie eine Indoor-Lösung. Nach Schätzungen der Studenten könnte ein 30-stöckiges Hochhaus etwa 50.000 Menschen ernähren. Für New York, das damals etwa acht Millionen Einwohner beherbergte, wären also 160 solcher Vertical Farms nötig. Kein Pappenstiel!
Doch so schön das auch klingen mag, ganz einfach ist die Umsetzung eines solchen Plans beileibe nicht. Nach Meinung des Agrarwissenschaftlers Stan Cox ist die Energieversorgung der Knackpunkt der tollkühnen Idee. Angenommen der gesamte Weizenertrag der USA soll aus Vertical Farms stammen, dann müsste dafür eine enorme Energiemenge für die Beleuchtung aufgewendet werden – nämlich achtmal so viel, wie die Kraftwerke der Vereinigten Staaten überhaupt produzieren. Eine saubere Lösung kann das aber nur mit erneuerbaren Energiequellen werden. Aber so viel Strom kann noch lange nicht grün erzeugt werden.
Wie funktioniert Vertical Farming nun genau?
Die Grundidee wird gut durch den Entwurf des Pariser Architekturbüros SOA verdeutlicht. Der 30 Stockwerke hohe Turm soll 130 Wohnungen, 8.675 Quadratmeter Bürofläche, ein Einkaufszentrum und 12.000 Quadratmeter Parkfläche enthalten. Über alle Geschosse verteilt sollen zusammengenommen 7.000 Quadratmeter Anbaufläche verteilt sein. Auf diesen Arealen sind die Pflanzen in einer Art Regalsystem übereinander angebracht. So könnten in einem Jahr über 70 Tonnen Obst und Gemüse produziert werden.
Die Wasserversorgung der Pflanzen kann über Regen- und Brauchwasser gestellt werden, während zwei Windräder auf dem Dach die nötige Energie einspeisen. Auch die Heizenergie wird umweltfreundlich gewonnen: 4.500 Quadratmeter Photovoltaik-Module sollen die Fassade zieren. Die Beleuchtung übernehmen unzählige energiesparende LEDs, um den Pflanzen das optimale Lichtspektrum zu bieten. Und damit die Photosynthese effizienter abläuft, wird der Kohlenstoffdioxidanteil in der Luft erhöht. Dadurch könnten je nach Art bis zu vier Ernten in einem Jahr eingefahren werden
Im Unterschied zur traditionellen Landwirtschaft wird im Urban Farming sogar auf Erde verzichtet. Die Pflanzen wurzeln in spezielle Röhren, umgeben von einem Nährstoffnebel. Überflüssiges Wasser kann am Boden leicht aufgefangen und wiederverwendet werden.
Die Vertical Farms errichtet werden sollen, gibt es sehr kurze Wege zum Endverbraucher. Zwischen Ernte und Auslage im Geschäft könnten gerade einmal zwei Stunden liegen. Zudem ist es komplett organisch. Die futuristischen Farmen würden Unmengen an Wasser sparen und sogar den Kohlenstoffdioxidausstoß reduzieren. Denn das Konzept macht nicht nur lange Transportwege überflüssig sondern auch die Bewirtschaftung großer Flächen mit Traktoren und anderen Gerätschaften.
Pilotprojekte gibt es bereits
Trotz der Sorgen um eine Machbarkeit im Großformat wird die Methodik zunächst im Kleinen getestet – und das vielfach. In einigen Farmen wird tatsächlich schon eine Menge produziert und so wächst die Hoffnung, dass eine echte Alternative gefunden wurde. Dennoch steckt die Entwicklung im Prinzip noch in den Kinderschuhen.
Niederlande
Beispielsweise wird im niederländischen Den Bosch drei Stockwerke unter der Erde eine enorme Vielfalt an Nutzpflanzen angebaut. Obwohl diese nie einen Sonnenstrahl abbekommen gedeihen sie vortrefflich. Sie liefern mehr als den dreifachen Ertrag eines Gewächshauses, wie ein Mitarbeiter der Betreiberfirma PlantLab verkündet. Und nicht nur das: Auch 90 Prozent der sonst benötigten Wassermenge können eingespart werden. Möglich wird dies, indem das Wasser nicht wie beim traditionellen Ackerbau im Erdboden versinkt und sich seinen Weg ins Grundwasser bahnt, sondern es wird aufgefangen und wiederverwendet.
Das Konzept ist erfolgreich: Tatsächlich können niederländische Verbraucher in Supermärkten bereits Rosen, Erdbeeren, Bohnen, Gurken, Mais und viele weitere Nutzpflanzen aus der unterirdischen Retorte kaufen. Und natürlich sind sämtliche Erzeugnisse unter fast klinischen Bedingungen entstanden. Pestiziden und sonstige chemische Hilfsmittel wurden somit nicht verwendet.
Südkorea
Auch in Südkorea wird an einem Prototypen einer Vertical Farm geforscht. Das aufstrebende Land lebt bisher zum Großteil von Nahrungsmittelimporten aus dem Ausland. Doch wenn Vertical Farming tatsächlich erfolgversprechend ist, könnte sich der Tigerstaat vielleicht irgendwann selbst versorgen. Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Zunächst findet der Versuch ganz bodenständig in einem dreistöckigen Gebäude statt. Solarzellen zieren das Dach und versorgen das futuristische Feld mit der nötigen Elektrizität.
Während man draußen also noch vom Wetter abhängig ist, wird innen nichts dem Zufall überlassen. Luftschleusen gegen Bakterien, perfekt abgestimmte künstliche Beleuchtung mittels violetter, blauer und weißer LEDs, Temperaturkontrollen und die ständige Überwachung der Luftfeuchtigkeit sollen den Ertrag sichern. Auf knapp 450 Quadratmetern sollen täglich 125 Blattsalatköpfe produziert werden.
USA
Auch die größte Volkswirtschaft der Welt hat die Zeichen der Zeit bereits erkannt und verdingt sich auf diesem Gebiet. In New Jersey ist bereits eine 21.031 Quadratmeter große Vertical Farm entstanden – die größte der Welt. Sie produziert im Jahr knapp 1.000 Tonnen Gemüse. Damit ist die Farm 75 Mal produktiver als eine mit herkömmlicher Bewirtschaftung.
Auch eine Kleinstadt im Jackson Hole, sonst vor allem für das jährliche Treffen der Notenbanker bekannt, wartet mit einer Vertical Farm auf. Fast sechs Monate im Jahr liegt hier Schnee – nicht das beste Klima für Landwirtschaft. Deshalb hat das Bergstädtchen auf Indoor-farming umgesattelt. Das dreistöckige Gebäude, liefert eine Bewirtschaftungsfläche von 1.670 Quadratmetern und produziert etwa 46.000 Kilogramm Obst und Gemüse.
Japan
Während in Südkorea noch an den optimalen Bedingungen für verschiedene Nutzpflanzen geforscht wird, wird in Japan schon geerntet. Die Vertical Farm in Shizuoka verfügt über mehr als 1.800 Quadratmeter Anbaufläche und bringt jeden Tag eine Ernte von 12.000 Kopfsalaten hervor. Auch die Japaner beleuchten ihre Pflanzen mit verbrauchsarme Leuchtdioden, um optimale Bedingungen zu schaffen. Ebenso wie die anderen bereits vorgestellten Pilotprojekte werden auch hier etwa 90 Prozent des sonst benötigten Wassers eingespart. Wie energieeffizient diese und andere Vertical Farms tatsächlich sind, ist uns leider nicht bekannt. Insofern bleibt die eingängliche Frage bestehen, ob sich der Energieaufwand derart reduzieren lässt, dass theoretisch ein kompletter Umstieg auf Vertical Farming möglich wäre. Denn die oben erwähnten Windräder auf dem Dach sind sicher nicht überall eine praktikable Lösung.
Doch wer weiß, was die Zukunft bringt. Vielleicht braucht man als Landwirt in Zukunft ein Ingenieurs- oder Informatikstudium und Bauer sucht Frau wird zu einer Sendung, in der Hochbegabte vermittelt werden. Es wird also sicher noch einige Zeit dauern, bis die Methode den traditionellen Ackerbau ablösen wird. Doch eine spannende Zukunftsvision, die die Menschheit vielleicht eines Tages einen Schritt weiterbringen wird, ist es allemal.
Was sagt Ihr zu dem Konzept Vertical Farming? Glaubt Ihr, dass dies unsere Zukunft sein wird? Oder gibt es andere Projekte, die den Welthunger möglicherweise erfolgversprechender bekämpfen können? Wir sind gespannt auf Eure Kommentare und freuen uns auf eine heiße Diskussion!
Quelle Titelbild: Wikipedia/ New crops